Am 3. Dezember 2023 jährt sich die »Washingtoner Erklärung« zur Aufarbeitung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zum 25. Mal. Anlässlich dieses Jahrestags macht die Staatsgalerie Stuttgart alle Provenienzen der zwischen 1933 und 1945 erworbenen Gemälde und Plastiken in ihrem Bestand öffentlich – inklusive Quellenangaben und Provenienzlücken.
Vor genau 25 Jahren wurden auf der »Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust« die so genannten »Washingtoner Prinzipien« verabschiedet. In diesem völkerrechtlich nicht bindenden Papier bekräftigten 43 Staaten, darunter Deutschland, und 13 nichtstaatliche Organisationen eine »gerechte und faire Lösung« für den verfolgungsbedingten Entzug von Kunstwerken zu finden, der auf den staatlichen Terror der Nationalsozialisten zurückzuführen ist. Die Unterzeichnung der »Washingtoner Erklärung« am 3. Dezember 1998 gilt als zentraler Meilenstein in der Geschichte der Provenienzforschung in öffentlichen Museen und Sammlungen.
Die Staatsgalerie nimmt den Jahrestag dieses historischen Datums zum Anlass, die Ergebnisse der kritischen Befragung ihrer eigenen Erwerbungen zwischen 1933 und 1945 öffentlich zugänglich zu machen. Dies erfolgt durch den Eintrag der Provenienzangabe in der »Sammlung Digital«. Dabei handelt es sich um alle 272 Gemälde und 38 Plastiken, die in der NS-Zeit auf unterschiedlichen Wegen zunächst Eingang in den Bestand der Staatsgalerie fanden. Die Zugänge der Graphischen Sammlung vor 1945 sind durch herbe Aktenverluste durch die Kriegseinwirkung im Jahr 1944 nicht mehr vollständig zu rekonstruieren.
Eine Besonderheit stellt der konsequente Einsatz von Fußnoten dar, der es der internationalen Gemeinschaft ermöglicht, alle für die Klärung der früheren Besitzverhältnisse herangezogenen Quellen nachzuvollziehen. Hinzu kommt die klare Kennzeichnung von Provenienzlücken. Neben dem Gebot der Transparenz im Sinne der Washingtoner Erklärung erhofft sich die Staatsgalerie von dieser Maßnahme, Hinweise auf bislang unberücksichtigte Quellen zu erhalten, um Lücken in den Provenienzketten zu schließen.
Seit 2009 erforscht die Staatsgalerie die Erwerbungsgeschichte ihrer Sammlung, seit 2015 im Rahmen einer vom Land Baden-Württemberg finanzierten Dauerstelle. Der Fokus der Provenienzforschung liegt dabei auf Kunstwerken, die vor 1945 entstanden und nach 1933 in die Sammlung gelangt sind. Diese Kriterien treffen aktuell, einschließlich der Graphischen Sammlung, auf mehr als 7.000 Werke zu. Das Ergebnis von 14 Jahren Provenienzforschung sind derzeit rund 1.050 überprüfte Provenienzen und 17 restituierte Kunstwerke.
Da der Forschungsstand aufgrund täglich neuer Inhalte in Datenbanken, Publikationen und Archivbeständen relativ schnell veraltet, wurden die neu hinzugefügten Provenienzen vor ihrer Veröffentlichung nochmals geprüft. Von den 310 Provenienzen konnten bislang fünf Gemälde eindeutig als NS-verfolgungsbedingter Entzug identifiziert werden. Sie wurden wie üblich als Fundmeldung in die Lost-Art-Datenbank eingestellt. Bei drei Gemälden kann der Verdacht eines NS-verfolgungsbedingten Entzugs nach aktuellem Forschungsstand nicht ausgeschlossen werden. 152 Gemälde gelten nach dem jetzigen Stand als unbedenklich.
Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie, sagt: »Die Staatsgalerie betrachtet Provenienzforschung als selbstverständlichen Bestandteil von Museumsarbeit. Obwohl einige Museen die Provenienzen ihrer Bestände in der Zwischenzeit veröffentlicht haben, verzichtet die Mehrheit noch immer auf die so wichtigen Quellenangaben. Hinzu kommt, dass wir aus Gründen der Vollständigkeit auch diejenigen Werke veröffentlichen, die physisch nicht mehr in der Staatsgalerie sind, auch wenn das Schaffen dieser Transparenz mühevoll ist. Es ist uns ein Anliegen, auch Auskunft geben zu können über die 1937 als »entartet« beschlagnahmten Werke, Kriegsverluste sowie weitere durch Rückgaben, Diebstähle oder Verkäufe nicht mehr zur Sammlung gehörigen Kunstwerke, die wieder Teil anderer Sammlungen werden.«
37 der 272 von 1933 bis 1945 erworbenen Gemälde befinden sich heute nicht mehr im Besitz der Staatsgalerie. Während elf dieser Werke als sicher gestohlen bzw. verschollen gelten und eines noch während der NS-Zeit als »entartet« beschlagnahmt wurde, handelt es sich bei vier Gemälden um Kriegsverluste, 21 Gemälde wurden deakzessioniert. 21 der 38 von 1933 bis 1945 erworbenen Plastiken gelten ebenfalls als Kriegsverluste.
Johanna Poltermann, seit 2018 Provenienzforscherin an der Staatsgalerie, sagt: »Ich freue mich sehr, dass die jahrelange Forschung zur Herkunft unserer Sammlung endlich sichtbar wird. Provenienzforschung ist Team-Arbeit. Ohne die reibungslose Zusammenarbeit aller Abteilungen wäre die Umsetzung dieses Projektes nicht möglich gewesen – ich bedanke mich herzlich beim gesamten Team der Staatsgalerie.«
Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung veröffentlichten die Bundesregierung, die Länder und die kommunalen Spitzenverbände eine »Gemeinsame Erklärung« zur »Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz. « Eine international gut vernetzte Provenienzforschung sorgt ebenso wie ein transparenter Umgang mit Quellenangaben und Provenienzlücken dafür, dass diese Selbstverpflichtung auch vierundzwanzig 24 Jahre später kein Lippenbekenntnis ist.
Vermittlungsformate wie Führungen, Vorträge, Publikationen, eine VR-Anwendung und ein aktuell in Überarbeitung befindlicher Audioguide bringen neben der Veröffentlichung der Provenienzangaben in der »Sammlung Digital« diese Forschungstätigkeit der Staatsgalerie der Öffentlichkeit nahe.
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Programm der Besuchererfahrung
Provenienzen online: Zoom-Vortrag über die Staatsgalerie im Nationalsozialismus anlässlich 25 Jahre Washingtoner Erklärung
Di. 19.12.2023 I 18.30 – 19.30 Uhr I Online-Vortrag über Zoom, kostenlos
Im kostenlosen Live-Vortrag über Zoom führt Provenienzforscherin Dr. Johanna Poltermann in das wichtige und spannende Forschungsfeld der Provenienz ein. Sie beleuchtet die Tätigkeit der Staatsgalerie im Nationalsozialismus und zeigt anhand ausgewählter Beispiele die Erwerbungspolitik des Museums genauer auf.
Neu: Kostenloses JUGEND BRAUCHT KUNST-Workshop-Angebot für Schulklassen: #Verfolgt, Diffamiert - Aufgeklärt! Kunst im Kontext von Machtmissbrauch
In diesem Workshop geht es um die zumeist leidvollen, auch abenteuerlichen Geschichten von Künstlerinnen und Künstlern zwischen 1933 und 1945 und wie das oft rätselhafte Verschwinden und Wiederauftauchen von Werken im Kunsthandel oder in Museen im Rahmen der sogenannten Provenienz-Forschung aufgeklärt werden kann.
Die Schülerinnen und Schüler erhalten zunächst eine kurze historische Einführung in die Frage nach der Rolle der Kunst im Nationalsozialismus und die dazugehörigen Fach-Begriffe. Danach tauchen sie in einer spannenden Themenführung mit Arbeitsheft in die Sammlung der Staatsgalerie ein. Im Zentrum stehen Kunstwerke, deren Entstehung, Aussage und auch Verbleib im Zusammenhang mit den dunklen Jahren zwischen 1933 und 1945 der Nazi-Herrschaft in Deutschland stehen.
In besonderer Weise wird die Situation von mehrfach diskriminierten Künstlerinnen und Künstler thematisiert. Im Entdecken, Betrachten und Vergleichen werden die Schülerinnen und Schüler für den Unterschied zwischen affirmativer, gefälliger Kunst einerseits und eigenwilliger, freier und kritischer Kunst in damals oft neuer, unverstandener Bildsprache andererseits sensibilisiert. Im Anschluss werden schließlich Fragen nach verschiedenen Möglichkeiten von Wiedergutmachung und Versöhnung behandelt und das damit verbundene Forschungsfeld der Provenienz kennengelernt. Nachvollziehbar werden so die Wege, die die Kunst nach 1945 in der Abstrakten Kunst als Weltsprache eingeschlagen hat.
Dauer: 120 min
Teilnehmerzahl: max. 25 Teilnehmende
Ziele: Historisches Wissen anhand von Kunst vertiefen, Kontexte von Kunst kennenlernen, Sehschule der anderen Art, Forschungsfragen kennenlernen, Demokratie-Bildung.
Information und Buchung beim Führungsservice: 0711 470 40-0 oder per Mail an fuehrungsservice.bwl.de
Im Rahmen von JUGEND BRAUCHT KUNST, gefördert von den Freunden der Staatsgalerie.
Während des Kalenderjahres finden zudem regelmäßig Führungen oder KUNST TRIFFT GESCHICHTE zum Thema Kunst im Kontext von Machtmissbrauch statt. |